Schnecke und Hase
Axel Schlote (Aus Tidemann sucht den Augenblick)
Als er die Lichtung verließ, überlegte Tidemann nicht, in weiche Richtung er gehen sollte. Er lief einfach. Bei einer Blume blieb er stehen, roch an ihr und genoss ihren Dutt. Dann lief er weiter, hielt wieder an, setzte sich und ließ seinen Blick über die Landschaft schwelten. Er hätte noch ewig weiter streunen können. Doch als er sich in der kühlen Dunkelheit eines Waldes für einen Moment an eine Baumrinde lehnte, da spürte er, dass er zum Umfallen müde war. Er wollte einen geeigneten Platz suchen, um sich aus zu ruhen. Schon nach wenigen Schritten entdeckte er im Gehölz eine Hütte. Dort konnte er sich bestimmt erholen. Als er an die Hütte trat, hörte er zwei Stimmen erregt miteinander streiten. Tidemann lief um die Hütte herum. An ihrer Rückseite saßen ein Hase und eine
Schnecke. Sie riefen durcheinander, der Hase gestikulierte mit seiner rechten Vorderpfote, und die Schnecke ruderte mit einem Fühler in der Luft.
«Hallo, ihr beiden. worüber streitet ihr so heftig?», fragte Tidemann.
«Die Schnecke hat mich beleidigt», sagte der Hase. «Sie behauptet, sie wäre schneller als ich. Das ist lächerlich. Jede Schnecke weiß, dass ein Hase immer schneller ist.» «Wenn etwas lächerlich ist, dann deine Behauptung», rief die Schnecke. «Im übrigen hat der Hase mich beleidigt. Er hat gesagt, dass ich eine langsame Schnecke sei.» «Was ist daran schlimm, dass du langsam bist?», fragte Tidemann. «Du bist doch eine Schnecke, und Schnecken sind langsam.»
«Das stimmt. Aber der Hase meint, dass er besser ist als ich, weil er schneller ist.»
«Gott erschuf die Welt in sechs Tagen», sagte der Hase. «Wenn er so langsam gewesen wäre wie die Schnecken, dann wäre er heute noch nicht fertig.» «Wenn Gott in sechs Tagen nur arrogante Hasen schaffen konnte, dann hätte er sich viel mehr Zeit lassen sollen», schrie die Schnecke wütend. «Dir werde ich es zeigen.»
«Ja, zeig es mir», rief der Hase kampfeslustig. «Wir rennen um die Wette. Wer zuerst ankommt, der hat Recht.» «Du bist unser Schiedsrichter», sagte die Schnecke zu Tidemann.
Sie verabredeten, zehn Mal um die Hütte herumzurennen. Tidemann nahm einen Ast und ritzte einen Strich in den weichen Waldhoden. Das war der Start und die Ziellinie. Der Hase und die Schnecke stellten sich an der Linie auf. Tidemann zählte bis zwei und klatschte bei drei mit den Händen.
Das Rennen begann. Die Schnecke kroch langsam von der Linie. Der Hase rannte davon, so schnell er nur konnte. Die Kurven an den Ecken der Hütte nahm er mit einem weiten Bogen, um nicht langsamer werden zu müssen. Bei einem Bogen war er so schnell, dass er aus der Kurve schleuderte und sich überschlug. Er schüttelte sich kurz und rannte sofort weiter.
Als der Hase zum zweiten Mal an Tidemann vorbei jagte, war die Schnecke gerade um die erste Ecke gekrochen.
Triumphierend sprang der Hase im Laut und beschleunigte noch weiter. So rannte er das dritte, vierte, fünfte, sechste, siebte und achte Mal an Tidemann vorbei, während die Schnecke, noch immer auf ihrer ersten Runde, nicht wieder zu sehen war.
Als der Hase zum neunten Mal um die letzte Ecke bog, rannte er nicht mehr. Er schnaufte, sein Herz pochte rasend unter seinem Fell. Mühsam schleppte er sich Schritt für Schritt über die Linie auf seine zehnte Runde. Da kroch die Schnecke zum ersten Mal um die letzte Ecke. In der gleichen Geschwindigkeit wie beim Start kroch sie Stück für Stück weiter. Als die Schnecke ihre erste Runde geschafft hatte, zog sich der Hase mit letzter Kraft an seinen Pfoten um die Ecke. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von der Ziellinie, aber kurz hinter der letzten Ecke brach er zusammen. Er lag auf dem Waldboden, alle vier Pfoten von sich gestreckt. Japsend rang er nach Luft, «Ich kann nicht mehr», keuchte der Hase. «Meine Beine zittern, ich kriege keine Luft mehr, und an der Seite sticht es wie ein Messer in mich hinein.»
Er blieb liegen, um sich zu erholen. Sicher würde er dann gewinnen. Es waren ja nur noch wenige Schritte. Aber seine Kräfte kamen nicht wieder. Einige Male versuchte er aufzustehen. Doch seine Beine zitterten so sehr, dass er sofort wieder hinfiel.
Während der Hase verzweifelt auf dem Boden lag, kroch die Schnecke gleichmütig eine Runde nach der anderen. Jede Runde dauerte weitaus länger als die ersten Runden des Hasen.
Doch sie kam vorwärts, gleichmäßig und ohne ein Zeichen der Erschöpfung. Schließlich kroch sie auf ihre letzte Runde, und wieder verging eine lange Zeit, bis sie um die letzte Ecke bog. Der Hase bäumte sich verzweifelt auf, doch sie überrundete ihn und kroch auf die Ziellinie zu.
Der Hase stöhnte, als die Schnecke hinter der Linie ankam und sich zu ihm umschaute. So gleichmäßig wie vorher kroch sie zu dem Hasen zurück. Tidemann ging zu ihnen und gratulierte der Schnecke. «Wie hast du es geschafft zu gewinnen?», fragte Tidemann die Schnecke.
«Ich hin so schnell gekrochen, wie ich kann. Der Hase ist schneller als ich, keine Frage. Aber er wollte noch schneller sein. So hat er verloren.»
«Ich kann nicht so langsam rennen, wie du kriechst», sagte der Hase, der langsam wieder zu Atem kam. «Das stimmt», sagte die Schnecke. «Doch jeder hat seine eigene Geschwindigkeit. Es kommt auf das richtige Tempo an. Auf einem kurzen Weg hättest du so schnell rennen können. Bei einer langen Strecke musst du langsamer laufen oder Pausen machen. Du hättest gemütlich hoppeln können. Dann wärst du jetzt nicht erschöpft und trotzdem mit großem Abstand Sieger geworden.» «Die Schnecke hat Recht», sagte Tidemann zum Hasen, nachdem er interessiert zugehört hatte. «Mal muss man schnell, und mal muss man langsam sein. Wenn du eine Möhre findest und sie genießen willst, weil du sonst nur Gras bekommst, dann musst du langsam essen. Wenn aber ein Feuer ausgebrochen ist, dann musst du schnell sein, sonst verbrennst du. Auch wenn du die Straße überquerst, musst du rennen, um nicht überfahren zu werden.»
«Das ist leider wahr», meldete sich die Schnecke. «Ich kann nicht schnell genug wegrennen, wenn es brennt. Deshalb sind Schnecken immer in Gefahr. Unsere Langsamkeit kann uns schnell das Leben kosten. Wenn ich eine Straße überqueren will, dann muss ich warten, bis es Nacht wird und selten ein Wagen vorbeifährt. Auch auf den richtigen Zeitpunkt kommt es an. Trotzdem bleibt es nachts gefährlich.» «Das macht doch nichts», rief der Hase. «Ich bin schnell und kann dich tragen, wenn es brennt oder wenn du die Straße überqueren willst. Wenn die Schnellen den Langsamen hellen, dann ist niemand in Gefahr. Dafür passt du auf, dass ich nicht zu schnell renne. Wenn du mich rechtzeitig warnst, dann hilfst du mir, nicht atemlos zu werden und genügend Kraft zu behalten.» «Heute muss ich dich wohl tragen», sagte die Schnecke und zwinkerte dem Hasen zu.
«Nein, danke.» Der Hase lachte. «Es geht wieder.» Langsam stand er auf. Seine Beine wackelten noch. Aber vorsichtig konnte er wieder eine Pfote vor die andere setzen.
«Dafür bin ich jetzt müde», sagte Tidemann. «Eigentlich wollte ich mich in der Hütte ausruhen.» Der Hase und die Schnecke dankten ihm, dass er ihr Schiedsrichter gewesen war. Sie waren hungrig und wollten eine Wiese suchen, an der sie sich satt essen konnten. Langsam, im Schneckentempo, verließen sie die Hütte.
Nach wenigen Schritten grinste der Hase die Schnecke an und sagte: «Wenn man hungrig ist, darf man doch schnell sein, oder?»
«Einverstanden!» Die Schnecke lachte. Der Hase bückte sich, und die Schnecke kroch sein Fell hinauf. Dann hoppelten beide davon.
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