Der Brombeerpflücker
Godfried Bomans
Vor vielen Jahren lebte in einem großen Wald ein alter Brombeerpflücker. Sein Vater und seine Mutter lagen schon seit einem halben Jahrhundert im Schatten einer Buche begraben. Aber das hatte er längst vergessen. Er wußte nicht einmal, was das zerfallene Kreuz eigentlich bedeutete; er hielt es nur für ratsam, einen Umweg zu machen, wenn er nachts daran vorbeigehen mußte.
Sonst wohnte niemand in dem Wald, und deshalb glaubte der Brombeerpflücker, er sei allein auf der Welt. Diese Vorstellung tat seiner Fröhlichkeit keinen Abbruch. Er sang immerzu lauthals die lustigsten Lieder - außer nachts, wenn er schlief.
Aber sonst kann man sich keinen glücklicheren Menschen vorstellen. "Die vielen silbernen Perlen auf den Blurnen", pflegte er des Morgens zu sagen. "Nur für mich sind all die Diamanten über das Gras gestreut. Was bin ich reich!" Und wenn er durch den Wald ging, staunte er: "Was für hohe Gewölbe, weite Tore und prachtvolle Säulen. Und all das nur für mich!" Mittags lag er auf dem Rücken, um die Wolken zu betrachten, welche die wunderbarsten Figuren für ihn formten. "Da, ein Bär", sagte er dann. "Und dort, eine Winterlandschaft. Was für eine Zimmerdecke Es macht mich ganz verlegen."
Doch die größte Freude hatte der Brombeerpflücker am Abend. Dann setzte er sich unter den Lorbeerbaum vor seiner Hütte und wartete gespannt. Und auf einmal, wenn die Sonne ihre letzten Purpurstrahlen über die Hügel warf, begann tief im Wald eine feine, hohe Stimme zu jubilieren, so zauberhaft schön und doch so unendlich wehmütig, daß ihm sogar die Tränen karnen." Herrlich! Prachtvoll!" rief er dann aus. "Danke! Danke, unbekannter Sänger! Was für eine Musik, welcher Klang! Wie schade, daß dich sonst niemand hört!"
Doch er war nicht allein. Ein Entdeckungsreisender zog durch den Wald, stieß eines Abends die wackelige Tür auf, stand lachend vor dem Brombeerpflücker und sagte. "Etwas zu essen und ein Bett, guter Mann, das ist alles, was ich will. Denn ich bin hungrig und müde. Versteht Ihr mich?" Doch der Brombeerpflücker saß totenbleich auf seinem Stuhl und schwieg. "Na los", fuhr der Reisende fort, "hier ist ein Goldstück. Das wird Euch die Zunge lösen."
Nun raffte sich der Brombeerpflücker auf. "Fremdes Wesen", sagte er mühsam, "ich brauche Euer Gold nicht. Deshalb habe ich nicht geschwiegen. Aber darf ich Euch einmal anfassen?"
"Nur zu", sagte der Fremde, der ein fröhlicher Mann war.
Der Brombeerpflücker betastete ihn. Er nahm seinen Kopf, drehte ihn nach allen Seiten, sah ihn aufmerksam an, kniff in seine Nase und rief zum Schluß: "Genau wie ich! Alles dasselbe!" Und er umarmte ihn.
"Was seid Ihr doch für ein "Einfaltspinsel", lachte der Reisende und machte sich los. "Habt Ihr noch nie einen Menschen gesehen?"
"Ich bin nicht allein!" rief der Brombeerpflücker und klatschte in die Hände. "Ich bin nicht allein! Genau solche Beine!" Und er tanzte um den Tisch.
"Kommt", sagte der Fremde, "ich habe Hunger. Beherrscht Euch doch etwas!" Und er setzte sich an den Tisch, nahm einen Holzteller aus seinem Rucksack und stellte ihn laut und deutlich vor sich hin. "Also", sagte er, "nun laßt mal etwas sehen."
"Ja, ja!" rief der Brombeerpflücker. "Genau wie ich! Ganz derselbe!" Und er hüpfte zum Vorratsschrank, holte Brot, Käse und Honigkuchen und tanzte mit alledem wohl dreimal um den Tisch herum. Dann setzte er sich hin, holte tief Luft und sagte: "Bedient Euch." Bei jedem Bissen, den der Fremde zu sich nahm, rief der Brombeerpflücker entzückt: "Genau wie ich!"
Das war anfangs etwas lästig, aber der Reisende hatte Hunger und aß lächelnd zu Ende. Zum Schluß hob er den Kopf, und sein Blick fiel auf das Goldstück, das noch immer am Rande des Tisches lag. "Freund", sagte er, "warum wollt Ihr das Goldstück nicht von mir annehmen?"
"Ich brauche es nicht", antwortete der Brombeerpflücker einfach, "ich habe Diamanten."
"Diamanten?" wiederholte der Reisende, "Ihr habt Diamanten? Wie viele?"
"Genau weiß ich es nicht", meinte der Brombeerpflücker sinnend, "ein paar Wiesen voll."
"Sagt das noch einmal."
"Ein paar Wiesen voll", wiederholte er.
Dieses Mal war es der Reisende, der totenbleich auf seinem Stuhl saß. "Mann!" rief er schließlich. "Ihr seid steinreich!"
"Hab' ich doch schon gesagt", meinte der Brombeerpflücker, "aber das ist noch nicht alles. Ich habe auch noch andere Dinge."
"Was denn noch, beispielsweise, Kamerad?"
"Ja", sagte der Brombeerpflücker verlegen, "hier gibt es so viel. Da sind zum Beispiel die Spiegel."
"Spiegel?" fragte der Reisende hastig.
"Ja", fuhr der Brombeerpflücker ruhig fort, "ein paar Tausend. Ich hab' sie nie gezählt. Manche sind so groß, daß man einen ganzen Tag braucht, wenn man um sie herumgehen will. Ach ja."
" ... einen ganzen Tag braucht, wenn ... Freund, wo liegen all diese Schätze?"
"In meinem Haus."
"Das muß ein Palast sein", stammelte der Fremde.
"Es ist auch ein Palast", sagte der Brombeerpflücker lächelnd, "ich habe ihn noch nie ganz besichtigt, dafür ist er zu groß. Da sind Säulengänge, deren Ende man nicht sehen kann. Tausende von schlanken Säulen tragen das Gewölbe. Es ist eine Lust, das zu sehen. Ab und zu trifft man auf weite, noch höhere Bögen. Dort ist das Gewölbe nicht grün, sondern hellblau mit weißen Flecken."
"Mosaik also?" fragte der Reisende atemlos.
"Ich weiß nicht, was Ihr meint", antwortete der Brombeerpflücker.
Der Reisende erklärte ihm das schwierige Wort.
"Oh nein", entgegnete der Brombeerpflücker, "das ist nur Kinderkram! Mich würde es auf die Dauer langweilen, immer dasselbe anzusehen. Nein, hier bewegen sich die Figuren, sie ziehen langsam und würdevoll vorbei, ja, sie verformen sich zu den wunderbarsten Gestalten: Eisbären, Winterlandschaften und Kobolde mit Bärten. Selbst die Farben verändern sich: mal tiefblau, mal hellgrau, mal beides. Es ist herrlich anzusehen, ich werde es nie müde."
"Das ist ja unglaublich!" rief der Fremde. "Unglaublich! Und das alles für einen Menschen. Ihr müßt Euch doch sicher manchmal einsam fühlen zwischen all den Säulen, Gängen und Spiegeln."
"Aber nein", meinte der Brombeerpflücker, "es gibt genug Musik, von allen Seiten und den ganzen Tag."
"Musik?" rief der Reisende. "Musik? Na, Beerenpflücker, jetzt wollt Ihr mir aber etwas weismachen!"
"Nein, wirklich nicht", versicherte der Brombeerpflücker_ den ganzen Tag über und immer wieder neue Lieder. Und abends wird besonders schön gesungen. Ihr müßt morgen abend mal lauschen. Ihr schlaft doch heute nacht hier?"
"Nein", antwortete der Fremde und zog seine Jacke über, "ich Muß sofort weiter. Ich bin Entdeckungsreisender. Dies ist meine größte Entdeckung. Ich gehe, um jedermann davon zu berichten."
"Ja, das müßt Ihr tun", sagte der Brombeerpflücker, "Ich habe es schon lange als Unrecht empfunden, das alles allein zu genießen. Aber bleibt doch noch diese kurze Nacht! Dann werde ich Euch morgen alles zeigen, und Ihr könnt noch viel besser davon erzählen."
"Nein", sagte der Reisende. "Zeit ist Geld. Ich gehe sofort weiter. Besten Dank für den Honigkuchen. Adieu!" Er zog die Tür hinter sich zu und verschwand in der Nacht.
Der Brombeerpflücker eilte nach draußen, aber er sah nur noch, wie sich ein Schatten zwischen den Bäumen verlor. "Wie schade", murmelte er. "Zeit ist Geld? Und er hätte so viele Diamanten haben können, wie ein Mensch nur tragen kann. Reisender! Reisender, kommt zurück!"
Doch der hörte ihn nicht mehr. Er sprang über Hecken und Zäune, schwamm durch zwei Flüsse, marschierte wieder durch einen dunklen Wald und war in der Stadt. "Bürgermeister, ich habe etwas Wichtiges mitzuteilen", sagte er und erzählte von dem reichen Brombeerpflücker.
"Gut", sagte der Bürgermeister, "das hört man gern. Dann sprecht nur vom Rathaus aus."
Und der Reisende sprach vom Rathaus aus: "Leute!" rief er, "möchtet ihr gern Diamanten haben?"
Aber sicher!" riefen die Menschen.
"Und hat jemand Lust auf Spiegel, so groß wie dieser Marktplatz?"
"Ja, sicher!" riefen die Leute. "Gebt sie nur her!"
"Und ist hier vielleicht jemand, der gern in einem Palast mit grünen Säulengängen und Decken aus beweglichem Mosaik wohnen würde?"
"Klar wollen wir das!" schrien die Menschen. "Wo steht er?"
"Kommt nur mit!" rief der Entdeckungsreisende. "Lauft nur immer hinter mir her! Wir haben keine Zeit zu verlieren!"
Und sie marschierten durch einen dunklen Wald, schwammen durch zwei Flüsse, sprangen über Hecken und Zäune und waren im Wald bei dem Brombeerpflücker.
"Beerenpflücker!" rief der Reisende. "Hier sind wir."
"Wie schön", sagte der Brombeerpflücker, "Ihr fackelt nicht lange, das muß ich schon sagen. Himmel, wie viele Leute habt Ihr denn da mitgebracht? Das müssen ja ein paar Tausend sein. Was wollt Ihr mit denen?"
"Wir kommen die Diamanten holen", sprach der Bürgermeister und trat vor, "und wir wollen in dem Palast wohnen, der eine Decke aus beweglichem Mosaik und Säulen aus grünem Smaragd hat. Wir kommen, um der Musik zu lauschen, und auch die Spiegel müssen wir haben."
"Das ist ja wunderbar!" rief der Brombeerpflücker und umarmte ihn. "Ich bin froh, daß Ihr das auch zu schätzen wißt und daß Ihr begreift, wie schön das alles ist. Willkommen, willkommen! Honigkuchen hab' ich nicht so viel, aber dafür gutes Brot und frisches Wasser."
"Wir brauchen keinen Honigkuchen" sagte der Bürgermeister langsam, "wir wollen Diamanten."
"Die bekommt Ihr!" rief der Brombeerpflücker. "So viele, wie Ihr wollt. Wartet bis morgen."
"Geht das nicht noch heute abend?'' fragte der Bürgermeister besorgt. "Zeit ist Geld."
"Nein", erwiderte der Brombeerpflücker und schüttelte den Kopf, "jetzt ist es dunkel, und in der Dunkelheit sieht man die Diamanten nicht. Aber morgen früh sollt Ihr etwas zu sehen bekommen! Geht jetzt nur schlafen, wir haben alle Zeit."
"Gut", sagte der Bürgermeister. "Schlafen, Leute! Wir haben alle Zeit!"
Am folgenden Morgen lagen die Auen glitzernd und funkelnd unter einem roten Himmel. An jedem Grashalm, auch am kleinsten, hingen prachtvolle, silberne Diamanten, und als die Sonne aufging, verwandelten sie sich in Topase, Smaragde und Saphire, strahlend vor Licht, blinkend vor Reinheit, leuchtender als irdische Juwelen. Und mittendrin standen die Menschen und redeten von Diamanten, die jetzt wohl gefunden werden sollten, ganze Wiesen voll. Wenn nur endlich der Beerenpflücker aufwachte! Sie sahen gespannt auf die kleine Tür. Endlich ging sie auf Der Brombeerpflücker trat nach draußen und ließ still seinen Blick über die Auen schweifen. Tränen standen ihm in den Augen. "Habt Ihr ein Glück", sagte er leise.
"Wie bitte?" murmelte der Bürgermeister.
"Ich sagte, daß Ihr Glück habt", antwortete der Brombeerp flücker. "So viele Diamanten liegen da sonst nie."
"Ich sehe keine Diamanten", sagte der Bürgermeister.
"Ihr seht keine?" fragte der Brombeerpflücker verblüfft.
"Wir sehen nichts!" riefen die Menschen. "Wir sehen überhaupt nichts."
Der Brombeerpflücker schlug die Hände über dem Kopf zusammen. "Wo habt Ihr nur Eure Augen?" rief er. "Schaut Euch doch um! Seht Ihr das nicht?"
"Das ist Tau", sagte der Bürgermeister böse.
"Das ... das wußte ich nicht", stammelte der Brombeerpflücker. "Ich dachte ..."
"Wo sind die Säulengänge?" fragte der Bürgermeister knapp.
"Dort", flüsterte der Brombeerpflücker.
"Das sind Bäume", erklärte der Bürgermeister. "Wo ist das Mosaik?"
"Da", sagte der Brombeerpflücker.
Der Bürgermeister hob die Augen zum purpurnen Himmel. "Das ist doch nur Luft", sagte er, "das ist einfach nur der Himmel. Wo sind die Spiegel?"
Der Brombeerpflücker wies schweigend in die Ferne.
"Das sind Teiche", sagte der Bürgermeister. "Wo ist die Musik?"
Der Brombeerpflücker hob den Zeigefinger, und der Bürgermeister horchte. Dann richtete er sich auf und sagte mit einem bitteren Lächeln: "Das ist eine Nachtigall, du Narr! Eine ganz gewöhnliche Nachtigall! Wir sind betrogen worden!"
"Wir sind betrogen worden!" schrien die Menschen. "Man hat uns betrogen!"
"Aber ich habe doch genau geschildert, wie es ist", verteidigte sich der Brombeerpflücker. "Ich habe doch genau ..."
"Hängt ihn auf!" riefen sie. "So hängt ihn doch auf!"
Und als am Abend die Nachtigall ihr trillerndes Lied begann, war niemand mehr da, der ihr lauschte. Denn einen Ast tiefer hing der Brombeerpflücker, tot.
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